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“Was kommt auf uns zu? Ich sehe herum, und alles zerbricht.

Alles ist in Stücken. Diese Zeit, in der wir leben.

Was, wenn etwas passieren würde? Wer würde sich um uns kümmern?

Es scheint, dass alles uns zerstören könnte.

Die Leute wollen unsere Familie zerstören. Hüte dich vor Ihnen, sie wollen uns alle zerstören.

Ich fühle es, alles so nah.

Diese schreckliche … schreckliche Katastrophe.”

(Maxim Gorki, Die Kleinbürger, 2. Akt., 1902)

Die Angst vor dem Fremden, dem Anderen, dem Unverständlichen gehört zum Menschsein und zur Menschgeschichte wie das Auf- und Untergehen der Sonne. Leider. Hierfür gibt es in der Geschichte ebenso wie in den Geschichten der Literatur allerorten viele traurige Beweise. Davon ist Obenstehender nur einer. Aus einer anderen Zeit, aus einem anderen Land, aus einem Drama, das seinen Namen verdient, beschäftigt mit dem einen Thema, das in uns stets und immer fortwährend die größten Ängste und größten Drama auslöst: Die Veränderung. So viel Positives aus jeder Veränderung hervorgeht, aus dem Neuen, aus dem Anderen, aus dem Vermischen des bisher Unvermischten, so sehr hat der Mensch immer genau davor Angst.

Auch heute wieder, 113 Jahre nachdem Gorki seine Kleinbürger über “diese schreckliche Katastrophe” hat lamentieren lassen, klingen die Menschen haargenauso. Alles zerbricht. Alles ist in Stücken. Alles scheint zerstört zu werden. Und hütet Euch vor ihnen. Vor Terroristen. Vor Islamisten. Und überhaupt vor dem Islam. Vor Flüchtlingen. Vor Marie Le Pen. Vor der Pegida. Vor den Medien. Vor Facebook. Vor der Digitalisierung. Vor der Globalisierung. Vor Deinem Nachbarn. Vor …

Und ob wir das (was auch immer DAS ist) schaffen, wird wiederum die Geschichte zeigen. Aber, wie immer, sind nicht die großen, lauten Medienberichte über katastrophale Zustände an Europas Grenzen oder in Flüchtlingsheimen, über zunehmende ausländerfeindliche Übergriffe auf und Demonstrationen gegen selbige, über hilflose Helfer und machtlose, weil ideenlose Politiker die (einzige) Realität. Nein (und auch das zeigen etwas feinfühligere Medien), es sind all die kleinen Geschichten und Momente des Alltags, in denen Integration, begleitet von unglaublichem Einsatz und Geduld, nicht nur möglich wird, sondern schon Realität ist.

Menschlichkeit ist möglich. Menschlichkeit ist Realität.

So gesehen und intensiv gefühlt bei der Schulweihnachtsfeier meiner Töchter in der vergangenen Woche. Liebevoll dekoriert und inszeniert (siehe Foto) bot, wie in jedem Jahr, jede Klasse etwas dar. Gesang, Tanz, Instrumentalmusik. Sehr schön, wie immer. Was nicht wie immer war, war der Weihnachtsrap der sogenannten “Übergangsklasse”, in der Kinder mit Migrations- oder Flüchtlinglingshintergrund über die Sprachbrücke in den Regelschulbetrieb begleitet werden. In erstaunlich gutem Deutsch (man denke an die kurze Zeitspanne von September bis Weihnachten!) und mit unbändiger Freude wurde hier gerappt und getanzt, ungeachtet von Alter, Hautfarbe, Herkunft, Glaube oder anderer angebliche trennender Faktoren. Vereint im Rap.

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Es waren nur zwei Minuten, aber zwei Minuten, in denen ich spürte, sicher auch angeschickert von der allgemeinen, dem Frühlingswetter trotzenden Weihnachtssentimentalität, der Stimmung der stimmungsvoll geschmückten Schulweihnachtshalle: Menschlichkeit ist möglich, und Menschlichkeit wird siegen, sie muss. Und ja, wenn wir das alle wollen, dann schaffen wir das!

Wir dürfen nur die Hoffnung nicht aufgeben, dürfen Geschichte und Geschichten nicht vergessen. Derer, die jetzt Hilfe benötigen, ebenso wie die derer, die vor vielen Jahrzehnten oder Jahrhunderten hilfebedürftig waren. Denn das waren möglicherweise die Unseren, waren möglicherweise wir.

History repeats itself. All we have to do is learn.

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